meinanwalt.at: Frau Dr. Höfle-Stenech, Sie sind Rechtsanwältin bei der Anwaltskanzlei Pfeifer Keckeis Fiel Scheidbach in Feldkirch. Möchten Sie uns etwas über Ihren bisherigen Werdegang erzählen?
Dr. Andrea Höfle-Stenech, LL.M.: Gerne. Nach meinem Jus-Studium, einem (nicht abgeschlossenen) Sportstudium sowie und einem Post-Graduate Studium in Europarecht absolvierte ich ab dem Jahr 2001 meine Ausbildung zur Anwältin in einer führenden Kanzlei in Bregenz. Anschließend war ich mehrere Jahre Juristin in der Rechtsabteilung einer großen Regionalbank, wobei ich insbesondere spezielles Wissen im Bankwesen erworben habe. Schließlich zog es mich aber doch zurück in die Anwaltei und ich war einige Jahre in der größten forensisch tätigen Rechtsanwaltskanzlei in Liechtenstein tätig, wo ich auch international und mehrsprachig arbeiten konnte. Insgesamt überwiegt bei mir aber die Vorliebe für das österreichische Rechtswesen, weshalb ich mich 2014 – nach der Geburt meiner Kinder - beruflich wieder in meiner Heimat niedergelassen habe.
meinanwalt.at: In welchen Rechtsbereichen sind Sie vorwiegend tätig?
Dr. Andrea Höfle-Stenech, LL.M.: Grundsätzlich können wir in unserer Kanzlei die rechtliche Beratung und Vertretung in sämtlichen Rechtsgebieten abdecken. Neben dem Liegenschafts- und Immobilienrecht (inkl. Miet- und Wohnrecht) sowie Zivilrecht liegt mein Focus insbesondere im Ehe- und Familienrecht. Auch Arbeitsrecht- und Sozialrecht sowie Arzthaftungsrecht gehört zu meinen Kernkompetenzen. Darüber hinaus führe ich Verlassenschaften durch und wickle Schadenersatzprozesse ab. Auch auf die grenzüberschreitende Eintreibung von Forderungen bin ich spezialisiert.
meinanwalt.at: Wir möchten heute mit Ihnen über das Sorgerecht – auch Obsorge genannt – sprechen. Was versteht man darunter?
Dr. Andrea Höfle-Stenech, LL.M.: Unter Obsorge versteht man die Pflege und Erziehung, Vermögensverwaltung und die gesetzliche Vertretung in diesen und anderen Bereichen. Die Obsorge erfasst ausschließlich Minderjährige und endet daher mit der Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes.
meinanwalt.at: Haben verheiratete Eltern automatisch das gemeinsame Sorgerecht?
Dr. Andrea Höfle-Stenech, LL.M.: Mit 01.02.2013 trat das Kindschaftsrechtsänderungsgesetz in Kraft. Mit diesem Gesetz wurde das bisherige Obsorgerecht etwas verändert. Wenn die Eltern zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes miteinander verheiratet sind, sind jedenfalls beide Eltern mit der Obsorge betraut. Gleiches gilt ab dem Zeitpunkt der Eheschließung, wenn sie einander nach der Geburt des Kindes heiraten. Auf ein Zusammenleben der Eltern kommt es dabei nicht an.
meinanwalt.at: Wer hat das Sorgerecht bei unehelichen Kindern?
Dr. Andrea Höfle-Stenech, LL.M.: Sind die Eltern zum Zeitpunkt der Geburt nicht miteinander verheiratet, hat die Mutter die alleinige Obsorge. Seit dem 01.02.2013 können die Eltern allerdings vor dem Standesbeamten persönlich und unter gleichzeitiger Anwesenheit nach einer Belehrung über die Rechtsfolgen einmalig bestimmen, dass sie beide mit der Obsorge betraut sind, sofern das Sorgerecht nicht bereits gerichtlich geregelt ist. Jeder Elternteil kann diese Vereinbarung allerdings innerhalb von acht Wochen ohne Begründung durch einseitige Erklärung gegenüber dem Standesbeamten widerrufen. Dem nicht obsorgeberechtigten Elternteil steht grundsätzlich das sog. „Kontaktrecht“ (früher: Besuchsrecht) zu.
meinanwalt.at: Kann gegen den Willen eines Elternteils das gemeinsame Sorgerecht beantragt werden, wenn die Eltern nicht im gemeinsamen Haushalt leben?
Dr. Andrea Höfle-Stenech, LL.M.: Die gemeinsame Obsorge auf Dauer getrennt lebender Eltern gibt es schon seit mehr als 10 Jahren. Früher konnte sie jedoch nur im Einvernehmen beider Eltern begründet und aufrechterhalten werden. Seit dem 01.02.2013 ist die gemeinsame Obsorge beider Eltern gegen den Willen eines der beiden möglich. Dabei muss allerdings ein Elternteil bestimmt werden, der das Kind hauptsächlich betreut (= „Domizilelternteil“ oder „Heim erster Ordnung“). Können die Eltern in diesem Punkt keine Einigkeit erzielen, muss das Gericht bei der Betrauung beider mit der Obsorge gleichzeitig den Domizilelternteil festlegen.
Einer solchen Entscheidung geht allerdings – stets unter der Voraussetzung, dass es dem Wohl des Kindes entspricht – eine vorläufige Regelung der elterlichen Verantwortung („Phase der vorläufigen elterlichen Verantwortung“) voraus, welche zumindest 6 Monate dauert. Diese Phase dient dazu, die Fähigkeit der Eltern zur gemeinsamen oder alleinigen Wahrnehmung der Obsorge unter gerichtlicher Beobachtung zu erproben.
meinanwalt.at: Unter welchen Umständen ist das gemeinsame Sorgerecht gegen den Willen eines Elternteils möglich?
Dr. Andrea Höfle-Stenech, LL.M.: Ein solches gemeinsames Sorgerecht ist nur möglich, wenn es nach den konkreten Umständen des Einzelfalls dem Kindeswohl entspricht. Eine Anordnung der beiderseitigen Obsorge gegen den Willen eines Elternteils ist darüber hinaus die Beurteilung maßgebend, ob in absehbarer Zeit mit einer Gesprächsbasis zwischen den Eltern gerechnet werden kann und welche Vorstellungen das Kind (ab dem 12. Lebensjahr) dazu äußert. Ausschlussgründe für eine Obsorge sind weiters beispielsweise die fehlende Erziehungsfähigkeit eines Elternteils, Kindeswohlgefährdungen durch Misshandlung, Missbrauch oder Vernachlässigung sowie das Vorliegen hochkonflikthafter Beziehungsmuster der Eltern.
meinanwalt.at: Welche rechtlichen Schritte müssen konkret gesetzt werden, um die gemeinsame Obsorge bei getrennt lebenden Eltern zu erreichen?
Dr. Andrea Höfle-Stenech, LL.M.: Der nicht mit der Obsorge betraute Elternteil muss seine Beteiligung an der Obsorge beantragen. Das Gericht leitet dann das entsprechende Verfahren ein. Natürlich können auch die beiden Eltern zusammen vor dem Standesbeamten die gemeinsame Obsorge vereinbaren, wenn – aus welchen Gründen auch immer – die Obsorge nur einem Elternteil zusteht.
meinanwalt.at: Wie kann ein Elternteil reagieren, wenn der andere den Umgang mit dem Kind verweigert?
Dr. Andrea Höfle-Stenech, LL.M.: Diese Probleme können in der Praxis sehr schwierig sein. Oft sind Eltern nicht bindungstolerant, d.h. sie besitzen nicht die Fähigkeit, Bindungspersonen des Kindes trotz eigener Konflikte mit ihnen in ihrer Bedeutung für das Kind zu achten, die Bindung des Kindes zum anderen Elternteil bzw. zu anderen wichtigen Personen zu respektieren und ihre Aufrechterhaltung zumindest zu tolerieren. Diese Bindungstoleranz ist ein sehr wichtiges Entscheidungskriterium für Obsorgeregelungen.
Wenn die persönlichen Kontakte zu dem Kind zwischen den Eltern nicht einvernehmlich geregelt werden können bzw. funktionieren, hat das Gericht auf Antrag des Kindes oder eines Elternteils diese Kontakte in einem dem Wohl des Kindes entsprechenden Weise zu regeln und die Pflichten festzulegen.
Wird die vereinbarte oder vom Gericht bestimmte Kontaktregelung nicht eingehalten, kann diese, wenn sie hinreichend bestimmt formuliert ist, auch zwangsweise durchgesetzt werden. Dabei hat das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen angemessene Zwangsmittel anzuordnen, z.B. Anordnung oder Androhung von Geldstrafen oder Beugehaft. Als ultima ratio gibt es die Kindesabnahme durch Gerichtsorgane. In der Praxis erfolgt dieses Vorgehen mit Hilfestellung durch Mitarbeiter des zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger. Diese Maßnahme kommt allerdings nur bei Obsorgeregelungen und nicht zur Erzwingung von Kontakten in Betracht. Ziel ist dabei die Herstellung jener Lebenswirklichkeit, die mit der Rechtslage laut Gerichtsbeschluss übereinstimmt.
meinanwalt.at: Wie sind Auslandsaufenthalte, bspw. Urlaube, bei gemeinsamer oder alleiniger Obsorge zu beurteilen? Kann der Elternteil mit dem alleinigen Sorgerecht die Urlaubsreise verhindern?
Dr. Andrea Höfle-Stenech, LL.M.: Das Ferienkontaktrecht ermöglicht das längere Beisammensein des Kindes mit dem nicht obsorgeberechtigten Elternteil. Etwa ab dem 6. Lebensjahr stellt ein Ferienbesuchsrecht von 2 Wochen die Regel dar.
Besteht bei getrennten Eltern gemeinsame Obsorge und ist der hauptsächliche Aufenthaltsort bei einem Elternteil festgelegt, so ist es nicht möglich, diesem Elternteil mittels Vereinbarung die Mitnahme des Kindes ins Ausland zu untersagen. Der betreuende Elternteil soll damit seine Kompetenzen alltagstauglich ausüben können.
Entsprechend kann auch ein Elternteil mit dem alleinigen Sorgerecht dem anderen Teil im Zuge der Ausübung des Ferienkontaktrechts einen Urlaub im Ausland nicht verbieten bzw. einen solchen nicht verhindern.
Ein „Untertauchen“ des Obsorgeberechtigten mit dem Kind ohne Bekanntgabe des Aufenthaltsortes und der Lebensumstände des Kindes kann allerdings die Entziehung der Obsorge und Übertragung auf den anderen Elternteil rechtfertigen.
meinanwalt.at: Was ändert sich am Sorgerecht, wenn sich verheiratete Paare scheiden lassen?
Dr. Andrea Höfle-Stenech, LL.M.: Bei einer Scheidung bleibt die Obsorge beider Eltern aufrecht. Die Eltern können jedoch vor Gericht eine Vereinbarung schließen, wonach ein Elternteil allein mit der Obsorge betraut wird oder die Obsorge eines Elternteils auf bestimmte Angelegenheiten beschränkt wird. Im Falle einer gemeinsamen Obsorge nach einer Scheidung haben die Eltern vor Gericht eine Vereinbarung darüber zu schließen, in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut wird (= „Domizilelternteil“ oder „Heim erster Ordnung“). Können die Eltern in diesem Punkt keine Einigkeit erzielen, muss das Gericht bei der Betrauung beider mit der Obsorge gleichzeitig den Domizilelternteil festlegen.
meinanwalt.at: Vielen Dank für das Gespräch!
Dr. Andrea Höfle-Stenech, LL.M. ist Rechtsanwältin bei der Anwaltskanzlei Pfeifer Keckeis Fiel Scheidbach in Feldkirch. Zu Ihren Tätigkeitsschwerpunkten zählt das Familienrecht, Scheidungsrecht, Liegenschafts- und Immobilienrecht, Mietrecht, Zivilrecht, Arbeitsrecht, Arzthaftungsrecht, Erbrecht und Schadenersatzrecht. Weitere Informationen und Kontaktdaten finden Sie auf dem Profil von Dr. Andrea Höfle-Stenech, LL.M. bei meinanwalt.at sowie auf der Webseite der Kanzlei Pfeifer Keckeis Fiel Scheidbach.
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